Blenden wir zurück zum 23. November 2015, 17 Uhr: 938 Personen sitzen auf ihren Stühlen in der Olma-Halle 2.1 und warten gespannt auf die neusten Vorschläge der IHK. Denn das angekündigte Thema des Konjunkturforums ist allgemein gehalten und daher noch nicht besonders greifbar: «Wirtschaftsstandort Ostschweiz – wie weiter?» Die Frage war berechtigt, denn den meisten Teilnehmenden steckten noch die Ereignisse vom Jahresanfang in den Knochen: Die Aufhebung des Euro-Mindestkurses stellte die exportierenden Unternehmen auf einen Schlag vor riesige Herausforderungen. Die Unternehmen meisterten ihre Aufgaben zwar bravourös, aber man stellte sich dennoch vermehrt die Frage, ob wir in der Ostschweiz für die künftigen Herausforderungen genügend gewappnet sind.
Die Segel neu setzen
Dieses einschneidende Ereignis war der Ausgangspunkt für die bei «Zukunft Ostschweiz» präsentierten Inhalte. Die Bestandesanalyse förderte bekannte Fakten zutage: Die Ostschweiz hat zwar eine äusserst starke industrielle Basis, fällt aber hinsichtlich verschiedener Kriterien zurück. So wurde aufgezeigt, dass das Wachstum bei Bevölkerung, Beschäftigung und Exporten sich in den 15 Jahren davor in den meisten anderen Schweizer Regionen dynamischer entwickelte als in der Ostschweiz. Dafür verfügt die Region St. Gallen-Bodensee über einen starken IT-Cluster mit etwa 2 000 Unternehmen und rund 20 000 Beschäftigten – und damit über eine vielversprechende Perspektive. Was jedoch lange fehlte, war die Zusammenarbeit aller Akteure sowie der unbedingte Wille, als IT-Standort eine führende Rolle zu spielen.
IT-Kompetenzen machen zunehmend den Unterschied. Der Informatik kommt in der digitalisierten Wirtschaft eine Schlüsselrolle zu, sowohl in der Industrie als auch in den Dienstleistungen. Da in der Informatik menschliches Wissen und Fähigkeiten fast alles ausmachen, gilt es vor allem diese menschlichen Faktoren zu stärken. Die Bemühungen müssen bereits im frühen Alter der Kinder einsetzen (siehe auch Interview mit Daniel Senn auf der Seite 16). Ein besonderes Augenmerk gilt aber der Sekundär- und Tertiärstufe, wo die digitalen Kompetenzen vermittelt werden, welche im Arbeitsleben benötigt werden.
Was die IHK 2015 vorschlug
Deshalb schlug die IHK vor drei Jahren drei Massnahmen zur Stärkung des IT-Standorts Ostschweiz vor. Erstens unterstützte die IHK die Einführung von Informatik-Mittelschulen, welche vom Bildungsdepartement bereits aufgegleist war. Zweitens forderte die IHK eine standortübergreifende Informatik-Strategie für die Ostschweizer Fachhochschulen, mit einer Bündelung der vorhandenen Fähigkeiten und dem Aufbau von Kompetenzzentren. Als dritte Massnahme schlugen wir die Einführung eines Informatik-Studiums an der Universität St. Gallen vor. Um IT-Bildungsoffensive anzustossen, sollten Inititialaufwände durch das besondere Eigenkapital des Kantons St. Gallen finanziert werden.
Informatik an der HSG studieren
Die Universität St. Gallen spielt für die Ostschweizer IT-Branche eine wichtige Rolle. Viele der im Raum St. Gallen ansässigen IT-Firmen wurden von Absolventen der Universität gegründet. Mit dem Institut für Wirtschaftsinformatik (IWI-HSG) besass die Universität St. Gallen bereits ein Institut mit einem starken Ausweis in angewandter Forschung. Dies und die traditionell enge Verbindung der IHK zur HSG – das Kaufmännische Directorium spielte 1898 eine entscheidende Rolle bei der Gründung der HSG – veranlassten den Vorstand der IHK dazu, der Universität St. Gallen 200 000 Franken zur Erarbeitung einer Konzept- und Machbarkeitsstudie «Studienschwerpunkt Informatik» zur Verfügung zu stellen. Am eingangs erwähnten 23. November 2015 war es dann so weit: Peter Spenger und Kurt Weigelt, Präsident respektive Direktor der IHK St. Gallen-Appenzell, überreichten HSG-Rektor Thomas Bieger einen symbolischen Check für die Erarbeitung der Machbarkeitsstudie. Mit diesem Schritt leistete die IHK einen – auch finanziell – entscheidenden Anstoss zur IT-Bildungsoffensive.
Im April 2017 wurden die Resultate der Machbarkeitsstudie der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Studie empfahl einen Wirtschaftsinformatik-Studiengang mit einer starken Praxisorientierung.
Politische Vorstösse
Parallel zur Ausarbeitung der Machbarkeitsstudie wurden auch die Bemühungen auf der politischen Ebene intensiviert. Im September 2016 überwies der Kantonsrat eine fraktionsübergreifende Motion von SVP, CVP-EVP und FDP. Diese lud die Regierung ein, die gesetzlichen Grundlagen zur Anschubfinanzierung für eine Bildungsoffensive auf allen Stufen der MINT-Ausbildung, unter besonderer Berücksichtigung der Informatikausbildung, zu schaffen. Die Motion wurde mit 107 zu 0 Stimmen überwiesen. Bereits ein Jahr später gab die Regierung eine Vorlage in die Vernehmlassung, welche einen Sonderkredit über 75 Millionen Franken für vier Teilbereiche vorschlug: Erstens ein Kompetenzzentrum für Digitalisierung und Bildung an der PHSG, zweitens ein Kompetenzzentrum für Angewandte Digitalisierung der Fachhochschule Ostschweiz, drittens einen Schwerpunkt Informatik und Management an der Universität St. Gallen und viertens die Vernetzung von Bildung und Wirtschaft. Nach Kritik aus der Wirtschaft kam noch ein fünfter Teilbereich hinzu, die Verbesserung der Informatikausbildung an den Berufsfachschulen. Diese Vorlage wurde in der Zwischenzeit vom Kantonsrat angenommen und kommt am 10. Februar 2019 zur Volksabstimmung.
Zügig umgesetzt
Die Welt steht nicht still. Mit der Digitalisierung beschleunigt sich das Tempo der Veränderungen noch einmal deutlich. Es ist erfreulich, dass drei Jahre nach Start der IT-Bildungsoffensive eine Vorlage zur Abstimmung kommt – für die langsam mahlenden politischen Mühlen ein hohes Tempo. Auch der Inhalt der Vorlage entspricht zu grossen Teilen den ursprünglichen Vorstellungen der IHK.
Mindestens so erfreulich ist auch, was der IHK-Vorschlag in der Zwischenzeit ausgelöst oder beschleunigt hat. So hat die Universität St. Gallen schnell reagiert und erste Massnahmen zügig umgesetzt: IT-Themen erhielten wieder viel mehr Gewicht, und es wurden unabhängig von der IT-Bildungsoffensive drei neue Informatikprofessuren besetzt. Sie dienen zur «Querertüchtigung»: Jeder HSG-Studierende muss künftig Grundkenntnisse in Wirtschaftsinformatik erwerben. Die Lehr- und Forschungsschwerpunkte der drei neuen Professoren – sie nahmen ihre Arbeit im Spätsommer auf – betreffen zukunftsträchtige Bereiche an der Schnittstelle von Wirtschaft und Informatik: Data Science, Industrie 4.0 und Artificial Intelligence und Machine Learning.
Offensive löst nicht alle Probleme
Bei aller Freude ob dem bisher Erreichten und der Hoffnung auf eine klare Zustimmung zur IT-Bildungsoffensive: Es darf nicht erwartet werden, dass mit dieser Anschubfinanzierung bereits alle Probleme gelöst sind. Erstens sind 75 Millionen, verteilt über sieben Jahre, im Vergleich zu einem jährlichen Bildungsbudget von Kanton und Gemeinden von rund 2 Milliarden Franken doch ein recht bescheidener Betrag. Zweitens gilt es auch, die Effizienz der Mittelverwendung zu erhöhen. Wie eine weitere Initiative der IHK aus dem letzten Jahr (Berufsbildung 4.0) gezeigt hat, läuft nämlich gerade im schulischen Teil der beruflichen Ausbildung für Informatikerinnen und Informatiker vieles nicht zur Zufriedenheit von Lehrlingen und Lehrbetrieben. Es sind deshalb anhaltende Bemühungen zu einer Verbesserung der IT-Kompetenzen und der Qualität der Bildungsangebote nötig. Nur so werden die Ostschweizer Schülerinnen und Schüler im Arbeitsmarkt der Zukunft bestehen können.
Aktuell
IT-Bildungsoffensive vor dem Durchbruch?
Die IHK St. Gallen-Appenzell hat einen massgeblichen Anteil an der IT-Bildungsoffensive, über die im Kanton St. Gallen Anfang 2019 abgestimmt wird. Der Startschuss dazu wurde vor drei Jahren am Konjunkturforum «Zukunft Ostschweiz» gelegt, als die IHK drei Massnahmen zur Stärkung des IT-Standortes Ostschweiz vorschlug und der Universität St. Gallen einen Check zur Ausarbeitung einer Machbarkeitsstudie für einen Studienschwerpunkt Informatik übergab.